Vier Jahre nach Wir sind die Vielen ist Bernadette La Hengst endlich zurück mit ihrem neuen Album Visionäre Leere.
Auf dem Cover ihres siebten Solo-Albums steht sie einsam in einer Wüstenlandschaft und wässert mit einer Gießkanne ihre Gitarre – ein skurriles, irritierendes Bild. Füllt sie damit die Leere mit neuen musikalischen Pop-Visionen? Denn wo nichts ist, kann ja was werden.
Auch diesmal spürt sie all den Verwerfungen, Ungerechtigkeiten und Widersprüchlichkeiten, der Ratlosigkeit und der scheinbaren Hoffnungslosigkeit nach. Sie bleibt wieder nicht an der polierten, unhinterfragten Oberfläche, gräbt tief, fragt nach, lässt nicht locker.
Scheinbar humorvoll, aber doch auch voller Traurigkeit. Kann denn immer alles wieder werden? Wie lange dauerts, bis wieder was wird? Die abgebrannten Kohle-Nachfolgelandschaften der Lausitz (auf sorbisch: Łužyca) brauchen mindestens 30 Jahre, bevor wieder Leben entsteht.
„Heilen Wunden alle Zeit? Und was kostet die Ewigkeit?“ singt La Hengst in dem magisch groovenden Wüstensong „Łužyca, du visionäre Leere“ zusammen mit ihrem gospelartigen Chor der Statistik. Der Beat kommt von Robert Kretzschmar (u.a. Kat Frankie & Albertine Sarges).
Gleich im Opener „Gib mir meine Zukunft zurück“, dem von Streichern (Ruth May & Claudia Wiedemer) und Beats getragenen eindeutigen Ohrwurm geht es um diese Leerstelle, einen utopischen Heimatbegriff, der durch die klare und bezaubernde Stimme ihrer 19jährigen Tochter Ella Mae im Refrain an die Forderungen der Klima-Aktivist*innen der „Letzten Generation“ anknüpft.
Und nachdem La Hengst keine Popsongs gefunden hat, die beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn plötzlich das erwachsene Kind das Haus verlässt, hat Bernadette La Hengst eben selbst einen geschrieben. „Mamablues“, ein melancholischer Italo-Disco-Sound und ein logischer Nachfolge-Song zu „Rockerbraut & Mutter (vom Album „La Beat“).
Was wäre ein La Hengst Album ohne neue feministische Pop-Hymnen? Eine gute Frage, die sofort musikalisch beantwortet wird.
Zusammen mit der ehemaligen Die Braut haut ins Auge Bassistin Peta Devlin
und der Schlagzeugerin/Schauspielerin Bärbel Schwarz lieferte sie die Post-Riot Grrrl Songs für das Theaterstück „Die Freiheit einer Frau“ (Regie: Falk Richter) im Schauspielhaus Hamburg.
In schönster Braut-Beat-Energie sprühen hier die feministischen Pop-Funken über bei „Sie ist wie eine Utopie“, und „Ich gehöre niemandem außer mir“, und die Rock’n Roll Punk Attitude von „Allée de la liberté“ erinnert an Le Tigre’s Hit Hot topic von 1999.
„Ob Mann ob Frau, ob non binär, ob reich oder prekär, die Solidarität aller Geschlechter ist die Zärtlichkeit.“ (aus „Sie ist wie eine Utopie“)
Das Rap Duett „Systemrelevant“ mit Alfred Haberkorn, das in den leeren Straßen des Lockdowns 2021 zusammen mit der Banda Comunale aus Dresden entstand, ist ein tanzbarer Aufschrei für den Wert von Kunst und Kultur und ein wortgewaltiges wütendes Statement gegen die schwurbelnde Impfgegner Bewegung, die ja bekanntlich bis in die Reichsbürger und Nazi-Szene hineinreicht.
Während der aus Sicht des Virus geschriebene dunkle Lovesong „Solang ihr mich nicht liebt“ mit den Bläserinnen Sonja Beeh (Posaune) und Samantha Wright (Saxophon, Klarinette) kraftvoll aus dem Schattenreich der Pandemie zurück ins Licht strahlt.
Kurz mal auf den Kopf gestellt wird mit dem Elektro-Dancer „Runterfahrn“ die deutsche Autoindustrie und die altbekannte „Kraftwerk“-Megahymne.
Mit „Dilemma/ohne Angst“, gelingt ihr einer dieser typischen Bernadette La Hengst Songs, der in einer leichten Bossa Nova Sommerbrise zwischen Beziehungsstreit und den scheinbar unlösbaren Konflikten der Welt hin und her tänzelt (im Duett mit Nick Nuttall).
Nach dem elektro-rockigen „Tanzen mit Gespenstern“ gibt es zum Finale einen Die Braut haut ins Auge Klassiker von 1995, der nichts von seiner Aktualität und scheinbaren Ausweglosigkeit verloren hat: „Was nehm ich mit wenn es Krieg gibt?“. Diesen leider zeitlosen poetischen Anti-Kriegs-Song transportiert Bernadette La Hengst am Klavier, zusammen mit den Streicherinnen Ruth May und Claudia Wiedemer ins Hier und Jetzt. Es klingt, als wäre er gerade eben erst geschrieben worden.
Und trotzdem bleibt Visionäre Leere nicht in Verzweiflung stecken, es gibt eben doch immer wieder Hoffnung, denn: Wo nichts ist kann ja was werden.