Gerade weil Lydia Daher sich bei jedem Song auf Unvorhergesehenes einlässt, weil ihre Popsongs immer wieder neu mit fremdartigen Klängen aufgeladen werden, ist dieses Album so großartig geworden. „WIR HATTEN GROSSES VOR“, erschienen beim Münchner Label Trikont, bringt die Überraschung in die Popmusik zurück. In einer besseren Welt sollte „WIR HATTEN GROSSES VOR“ auf den Jahresbestenlisten der Kritiker und in der aktuellen Hitparade ganz vorne platziert sein. B5 Album der Woche, Bernhard Jugel
„Und sei drauf eingestellt, dass deine heile Welt, an der du festhältst, wie alles um uns rum auseinanderfällt“, singt Lydia Daher auf ihrer vierten Tonträgerin „Wir Hatten Großes Vor“, wenn man die EP „Algier“ von 2015 dazu zählt. Und prompt zerbröselt auch die bis dahin tragende popmusikalische Struktur des Songs. Der Rhythmus purzelt, fängt sich wieder und geleitet im weiteren Verlauf dieses ersten Album-Tracks „Kein Grund Für Tränen“ in eine Musik, die verlässliche Repetitionen einer Popmusik spannend mit improvisierter Musik bricht. Mal mutet das dann auch an wie Jazzmusik. Mal deutet es die Möglichkeiten einer minimal music an, die bisweilen sogar an Meisterwerke von Terry Riley erinnern. Dann wieder skizzieren rasende Beats eine Szene, in der die Sängerin befindet: „Wir sind für alles viel zu langsam. Oder geht alles zu schnell?“
Doch statt den Text nur zu untermauern, widerspricht die Musik plötzlich, indem sie aus der ihr innewohnenden Hektik eine Art lässig grollenden Reggae schöpft. Ein Klang gewordenes Wortspiel sozusagen, das einmal mehr belegt, dass die Musikerin Lydia Daher nicht einfach nur Zeilen der preisgekürten Lyrikerin Lydia Daher vertont. Vielmehr dichtet sie in ihrer aktuellen Produktion nun mit Tönen und Rhythmen, als wären diese gleichsam Silben, die sie zu wunderbaren Worten zusammenfügt, komponiert. Worte, die das Unsagbare zu sagen versuchen und wie in der Dichtkunst einer gesprochenen Sprache also über ihre eigenen Grenzen hinauswachsen. In solchem Konstrukt ist der gesungene Text von Lydia Daher zugleich auch ein artikulierter Klang, ein weiteres Instrument im Zusammenspiel der anderen Instrumente, die hier von renommierten Jazz-Größen ebenso gespielt werden wie von einem Laien-Streichquartett, dessen Proben die mittlerweile in Berlin lebende Lydia Daher des öfteren als Nachbarin hört. Nicht immer freiwillig, aber meistens mit großer Begeisterung.
Einigen mitwirkenden Musikern wie den Schlagzeuger Daniel Schröteler, den Saxofonisten Philipp Gropper oder den Gitarristen Olaf Rupp lernte Daher als Kuratorin und als Konzertgängerin in ihrer neuen Heimat Berlin kennen. Andere, wie Bassist und Pianist Tobias von Glenck oder der algerische Mandole-Spieler und Gitarrist Mouloud Mammeri, haben schon früher mit Daher zusammengespielt. Das so gewachsene Ensemble und die erneute Zusammenarbeit mit Tobias von Glenck ermöglichten ihr schließlich, ein Album fertigzustellen, an welchem sie drei Jahre gearbeitet hat. Tatsächlich hätte es bereits fertige Aufnahmen vieler Songs gegeben, sagt Daher. Allerdings habe sie sich darin irgendwann nicht mehr wohlgefühlt.
Erst der avantgardistische Produktionsansatz hätte bewirken können, die Songs wieder neu zu denken und ihrer Stimme wieder den nötigen Raum gegeben, sagt Daher, die sich von Improvisationen der Musiker auch ermutigt sah, ihrerseits selbst zu improvisieren. Einen vorgefertigten Songtext also über Bord zu hauen, um vom Einsatz der Instrumentalisten inspiriert spontan einen neuen Text zu erschaffen, der letztlich aus ihr hervorbricht, als wäre er ein Saxofon-Solo. Es gehöre aber eben auch Disziplin dazu, um aus der Freiheit etwas zu machen, betont Daher: „Improvisation in diesem Kontext funktioniert nicht, wenn man sich nur selbst gern labern hört. Man muss zugleich auch ein guter Zuhörer sein.“ Darum ist Improvisation für Lydia Daher nicht nur eine spannende Kunstform, der sie im Grunde ja schon in ihren ersten Lofi-Aufnahmen fürs erste Album anhing, sondern auch eine notwendige Kommunikationsform in einer globalisierten Gesellschaft, in der jene Nationalstaaten sichtbar auseinanderfallen, an welchen einige noch verunsichert festhalten, als wären sie die heile Welt. „Doch das ist kein Grund für Tränen. Denn was geschieht, geschieht. Sieh es ein. Sieh es ein …“ DIRK WAGNER
Koproduziert von 3 Raum Produktionen
Hier sitzt tatsächlich jedes Wort am richtigen Ort. Wann hat man das schon mal im Zeitalter der Deutschpoeten? Und noch schöner: Die richtigen Worte werden von einer Musik unterstützt, die so ganz und gar nicht auf den Pop-Effekt schielt. Erst wenn das federleichte Understatement aus zurückhaltenden Arrangements mit Jazz-Drall gar zu bescheiden wird, streut Dahers Band sehr vorsichtig ein paar irritierende Atonal-Ideen oder Avantgarde-Witze ein. Musikexpress