Arme reichen sich die Arme. Münchner Kosmos: Das akustische Gesamtwerk von Karl Valentin.
Im kratzigen Charme alter Aufnahmen kommt einem plötzlich ein ganzer Kosmos entgegen. Und der unterscheidet sich allzu deutlich von dem Bild, das von dessen Urheber ausgerechnet in München herumgeistert. Karl Valentin, das putzige Manderl vom Viktualienmarkt, nach dem ein „Musäum“ benannt ist, das um 11.01 Uhr öffnet und 199 Cent Eintritt verlangt.
Bloß ein dünner „Spaßmacher“ von einst? Gerade in seiner Heimatstadt weiß man es eigentlich besser. Und falls doch nicht, dann hat jetzt der Münchner Trikont-Verlag, berühmt für sorgfältige Ausgrabungen im Untergrund des „Volksnahen“, das ultimative Material zur Präzisierung zusammengetragen. Karl Valentin Gesamtausgabe Ton 1928 – 1947 ist der schlichte Titel für eine editorische Meisterleistung. Auf acht CDs ist nun alles zu haben, was Valentin je an Tondokumenten aufgenommen hat (Trikont US-300). Stunden- und tagelang kann man als Hörer eintauchen in die fesslende, atemberaubende, heimelig-unheimliche Welt dieses frühen Meisters des Absurden. Des Mannes, von dem Alfred Polgar sagte, er sei „ein Gespenst und doch ein Münchner“ und dem Kurt Tucholsky einen „Höllentanz der Vernunft um beide Pole des Irrsinns“ attestierte. Ungemein spannend, den Vorfahren Gerhard Polts, Eugène Ionescos und Helge Schneiders dem Valentin etwa mit der Ansage „meine Herrschaften: ein Lied mit Gesang!“ vorausgriff in der Chronologie seiner Kunst der abgründigen Zwischentöne zu erleben. Schon frühe Stücke wie „Das Aquarium“ oder „Übertragung aus der Hölle“ („So einen Saustall, wie Ihr oben habt, können wir in der Hölle herunten nicht brauchen!“) zeigen Valentin als virtuos-gnadenlosen Sprache-beim-Wort-Nehmer und Gedanken-Schrauben-Weiterdreher. Und immer wieder bleibt einem das Lachen im Halse stecken, etwa bei dem Dialog „Der Sprachforscher“ mit Liesl Karlstadt, wo sich das Duo auf die Suche nach sogenannten „Illobrasekolidationen“ macht und beiläufig der Satz fällt: „Die Reichen reichen sich die Hände, die Armen reichen sich die Arme“. Ein Satz, den man heute wieder viel aufmerksamer hört wie auch den von den Fremden, die „nur in der Fremde fremd“ sind. Ein radikaler Menschenbeobachter und Präzis-Denker war Karl Valentin (1882 – 1948), der völlig verarmt und verhungert an Lungenentzündung starb. Das ausgezeichnete Begleitbuch (neben acht akribischen Booklets) bringt neben Hommagen von Herbert Achternbusch, Christoph Schlingensief und Hanna Schygulla auch ein Valentin-Stück von AZ-Spaziergänger Sigi Sommer: „Host ois gricht, is ’s Gas obdraht und d‘ Haustür zuagschberrt, Oide na kenn ma geh?“, schildert Sommer die letzten Worte Valentins. Und: „I hob ned gmoant, dass s‘ Sterbn so schee is“. Nun lebt er wieder auf in all seiner tiefgründigen Leichtigkeit.Roland Spiegel – Abendzeitung München vom 16./17. November 2002