Fragwürdig, seltsam, leicht verrückt – wer sich die ursprüngliche Bedeutung des englischen Wortes „queer“ ansieht, stößt auf viele Übersetzungen. Nur wenige davon waren sonderlich schmeichelhaft als damit vor einigen Jahren noch vornehmlich Homosexuelle bezeichnet, genauer: beschimpft wurden. Heute hat queer nicht nur für all jene, die sich selbst so bezeichnen, einen durchweg positiven Klang. Queer, das steht längst für selbstbewusste Normabweichung und Vielfalt, für Eigensinn und sexuelle Emanzipation.
Nun aber muss man die Bedeutung von queer abermals erweitern: queer steht auch für musikalische Bandbreite. Denn das nicht kommerzielle Szenemagazin „Hugs and Kisses“, das seit fünf Jahren alle 6 Monate erscheint, hat den Sound ihrer Freund_innen, ihrer Szene, ihrer Partys auf einem bemerkenswerten Sampler kompiliert. Er heißt wie das Motto der Zeitschrift – tender to all gender – und zeigt das ganze Spektrum jener Musik auf, die im queeren Kosmos gehört, geliebt und gelebt wird.
Auf dem Sampler haben sich die unterschiedlichsten Künstler_innen zusammengefunden: bekannte Namen und Newcomer, Undergroundstars und Tanzflächengrößen, Trashvirtuosen und Chartskompatible. Ihr Umfang reicht dabei weit über das hinaus, was seit Discozeiten unter „irgendwie anders als heterosexuell“ geprägten Klängen verstanden wird: Vom nostalgisch aufgepeppten HipHop-Funk Can I Get Get Get des dänischen Popduos Junior Senior als Auftakt bis zu Princessin Hans’ theatralischen Gypsyrock Passive Aggressive Romantic Obsessive Richtung Finale, vom federleichten Eurodance In Your Face der norwegischen Performance-Gruppe Hungry Hearts bis zur elektronischen Politkparole Free Pussy Riot der kanadischen Exilberlinerin Peaches.
Daneben steht der getragene technoide New Wave des Berlin-Münchner Elektroduos Tubbe (5 Minute Love), Kumbia Queers fröhlich verspielter Balkan-Housepop Tiro Al Blanco, Unterbrochen von Elektroclash der populären Sorte – zum Beispiel von den kanadischen Kids on TV und dem New Yorker Neo-Indiewave-Duo Light Asylum.
tender to all gender versammelt also eine Menge dessen, was das Herz mit größerem Hang zu digitalen als analogen Klängen begehrt: deutschsprachigen Breakbeat-Rap der Feministin „Quing of Berlin“ namens Sookee oder Crazy Bitch In A Caves operettenhaft androgyne New Disco Dance All Night aus Wien. Partyorientierte Technonummern wie Party Time von Scream Club, natürlich hochpolitische Mitdenklieder à la Ein Mädchen namens Gerd von der Popaktivistin Bernadette La Hengst.
Die Zusammenstellung ist bei aller tanzbaren Elektroniklastigkeit ebenso umfassend wie abwechslungsreich und dabei ziemlich emblematisch fürs Lebensgefühl des independent Undergrounds. Was sie allerdings nicht ist und nicht sein will, ist eine Antwort auf die Frage: was ist queere, geschweige denn homosexuelle Musik? tender to all gender liefert weder Definitionen noch Schubladen – nicht mal eine Orientierungshilfe. Die 16 wohlsortierten Stücke zeigen bloß auf, welche Möglichkeiten es gibt, sich jenseits der heteronormativen Wirklichkeit Gehör zu verschaffen. Das Geschlechterverhältnis aktiv durchbrechen tun höchstens die Künstler_ innen und dahinter; ein wie auch immer geartetes Selbstbewusstsein queerer Musik formt sich am Ende erst im Ohr des Publikums. „Es geht uns schließlich nicht um Gleichmacherei“, sagt Christiane Stephan, Herausgeberin der Hugs and Kisses. Statt alle über einen Kamm zu scheren, will ihr Magazin samt Compilation lieber „alle möglichen Geschlechter in ihren Unterschieden feiern“. Sie nennt das „Identität als Prozess“. Musik ist da nur der Schlüssel ins Universum der Andersartigkeit, die tender to all gender feiert, als gebe es ein Morgen. Und sei es mit den Mitteln des Pop.
Der liebevoll zusammengestellte Sampler des queeren Magazins Hugs and Kisses könnte auch den Untertitel „Tender to All Genres“ tragen, denn man findet hier einen bunt zusammengewürfelten Musikerhaufen, der auf diese Weise noch einmal extrem lässig die vielfältige Bedeutung des Wortes „queer“ betont. Die tanzbare Compilation vereint so diverse Musikstile, die allesamt auf den Partys von Hugs and Kisses mit Umarmungen und Küssen euphorisch willkommen geheißen werden. INTRO