SCHATZKARTEN ZUM VERLORENEN PARADIES
von Rennie Sparks
Es gibt eine Freude, die so rein, so natürlich und so wortlos ist, daß die einzige Art und Weise wie man sie auszudrücken kann, ein Schrei ist – ein hoher Ton, ein jauchzender Jodel. Die Countrymusik war immer in der Lage, diese Freudenschreie in ein wunderbar klagendes Schluchzen einzubetten, wodurch ein Klang entsteht, der so voller Schmerz und gleichzeitigem Vergnügen ist, daß man sich danach sehnt, sein Herz weichgeklopft zu bekommen und in diesen großen Strom bitterer Süße hineingestoßen zu werden, um darin zu ertrinken.
Die Lieder dieses Albums sind wie Liebestränke, die aus dem Wasser dieses Flußes der Glück-Traurigkeit zusammengemixt wurden. Die Liebe erscheint darin wie eine wunderschöne Blume, ein weißer Mond, ein samtener Himmel ausgelegt mit Sternen. Liebende suchen einander in der Wüste, in den Bergen und im wilden Grenzgebiet. Sie reiten auf Ponies oder fahren mit der Eisenbahn. Sie segeln über das Meer. Dies sind die Stimmen von Frauen, die voll von der Süße der Liebe sind, aber gleichfalls etwas von der Gewalt von Sandstürmen, Gewittern und der brennenden Sonne besitzen. Dies sind Schwestern, Töchter, Mütter, heimtückische Hexen, unschuldige Mädels, verruchte Weiber. Sie singen von Hoffnung und Furcht, von Geliebten, die sie anbeten und hassen, vom Glück, das man verliert und findet. Diese Lieder lassen einem das Herz anschwellen und zerbrechen und mit jedem Riß kommt man dem Himmel etwas näher.
Gebrochene Herzen
Nancy Brown im Lied „She came Rolling Down the Mountain“ der Aaron Schwestern ist eine der wenigen, die für immer glücklich weiter lebt. Nancy ist ein Cowgirl in der Rolle von Sisyphus, die mit allen möglichen Männern auf die wilden Berge von West Virginia
steigt, aber jedesmal herunterkugelt, wenn sie in die Nähe der Bergspitze kommt, bedrängt von Liebesschwüren. Am Ende überschüttet sie ein reicher Autobesitzer mit Diamanten und köstlichem Essen, dann fährt er sie sicher zum Berggipfel und darüber hinaus – wahrscheinlich in eine schöne Erdgeschoßwohnung in der Stadt.
Doch das ist die Ausnahme – eher enden die Liebeskranken dieser Zusammenstellung in der Nähe eines frisch ausgehobenen Grabs. Im Lied „Little Birdie“ der Coon Creek Girls geht es um einen selbstmörderischen Vogel, dessen Herz gebrochen ist, dessen Flügel blau anlaufen sind und der alles daransetzt, hoch genug hinaufzufliegen, um sich in den Tod zu stürzen. „Ich trinke lieber Schlammwasser und schlafe in einem hohlen Stamm“, piepst der traurige kleine Vogel, „als hier bei diesem alten Fluß zu bleiben und wie ein dreckiger Hund behandelt zu werden.“
Im Lied „Another Broken Heart“ der Carter Family verdörrt ein sitzengelassener Liebender auf einem mondbeschienen Strand zu einem alten Mann, der verloren
in einer städtischen Menschenmenge herumirrt. Eine Strophe weiter sucht er schon Blumen für sein eigenes Grab aus. Im Lied „I Saw Her Standing There“ der DeZurik Sisters läßt der arme Liebende seine Angebetete nur für einen Moment allein, und verliert sie für immer. Dann fallen die singenden Schwestern in einen eigenartigen Jodelgesang ein – eine Mischung aus Kuckuck-Ruf und Hyänengeschrei -, als ob die Absurdität des Schicksals des armen Jungen ihn in einen wortlosen Wahnsinn getrieben hätte.
Abschiedslieder
Doch der größte Herzschmerz, der all diesen Lieder innewohnt, ist, daß selbst ohne Enttäuschung oder Katastrophe, alle Liebenden am Ende durch den Tod geschieden werden. Im Lied „Flowers Blooming in the Wildwood“ der Coon Creek Girls geht die Liebende mit gebrochenem Herzen zwischen den wilden Blumen umher, wobei sie an ihren Geliebten denkt, der vor langer Zeit ertrunken ist. Sie waren nur einen Frühling zusammen, solange die Blumen blühten.
Mr. & Mrs. Bakers „On the Banks of the Old Tennessee“ ist ein Abschiedslied an jedermann, den das Sängerpaar jemals gekannt hat: Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Liebhaber. Aber es sind nicht die Toten, die beklagt werden, denn sie schlafen „im hellen Mondschein“. Es ist der Sänger oder die Sängerin, die auf der Schattenseite leben – einsam und verlassen.
Die Todessehnsucht ist nicht wirklich ein Selbstmordtrieb, der in einem Countrysong nach dem anderen hervortritt. Vielmehr ist es die Sehnsucht nach Ganzheit. Dies hier sind fröhliche Lieder über den Tod, Visionen vom Himmel, den es auf Erden gibt oder auch nicht, der aber unbestreitbar im Inneren dieser Lieder existiert. Diese süßen Stimmen schauen ins Vakuum der Himmelzelts und sehen ein Meer schimmernder Juwelen.
Im Monschein tanzen
Diese Lieder sind Schatzkarten, die uns zum verlorenen Paradies zurückführen. Es sind Erinnerungen an einen Ort, wo wir niemals waren. Sie lassen sich nicht davon abbringen, daß das Leben besser sein müßte, als es ist, und daß wir eigentlich Derwische sein sollten, die im Mondschein tanzen. Diese Lieder machen das Leben besser. Jeder hochfliegende Jodel und jede hoher Harmonienote bauen eine Treppe in den Himmel. Die Einsamkeit verschwindet, auch wenn die Sängerin über nichts anders singt, als daß sie einsam ist.
Hören wir uns das fröhlichen Lied über das Jüngste Gericht an, das die Leatherman Sisters in „Homecoming Week“ anstimmen. Sie können es kaum erwarten bis zur Apokalypse, zählen die Tage, weil dann das richtige Festen beginnt. Nach dem Ende der Welt vereinigen wir uns alle in einer großen Liebe, die sich nicht verändert und nicht mehr vergeht. „Wenn wir durch die Tore aus Perlen hindurch sind, werden wir singen und jauchzen und herumtanzen, und das Lamm Gottes wird unsere Tränen trocknen.“ Das SouthlandOs Ladies Quartette singt sogar davon, wie sie wieder an die Brust der Mutter gedrückt werden, als ob sie die Welt so satt hätten, daß sie am liebsten in den Uterus zurückkriechen würden.
Wunderkraft der Träume
Aber, wie die Carter Family in „Walking the King Highway“ singt, ist das Leben ein Leidensweg, der dazu da ist, uns zu läutern, uns wiederherzustellen und uns ins Paradies zu führen. Wenn das Leiden zu unserer Arbeit zählt, dann ist vielleicht ein Teil dieser Arbeit, diese schmerzhaften Lieder zu singen oder vielleicht auch nur ihnen zuzuhören. Jedes Mal, wenn diese qualvollen Songs gesungen werden, erinnern sie jemand anderes daran, daß wir alle nur Waisen sind, Wanderer, verloren.
Wir haben die Neigung zu denken, daß das Leben früher einfacher war und heute leerer und ärmlicher. Doch diese Lieder, die vor beinahe hundert Jahren aufgenommen wurden, zeigen, daß die Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld, der verlorengegangenen Freude und der vermißten Heimat, nur ein Bestandteil davon ist, menschlich und lebendig zu sein. Niemand von uns kann das Gefühl abschütteln, daß es irgendwo einen Zug, ein Auto, ein Pony, einen Geliebten oder einen Zauberspruch geben muß, der uns von hier wegholen könnte, über die Stadtgrenzen hinaus, an einen Ort, wo uns keine Einsamkeit, kein Zweifel und keine Angst mehr bedrückt.
Gibt es ein Paradies jenseits der Fährte der Tränen? Ist das von Belang? Diese kleinen Träume vom Himmel entfalten vielleicht wie mehr Wunderkraft in einer Welt ohne eingebauten Sinn. Diese Lieder sind wie tibetanische Gebetsfahnen, die an einer windigen Bergseite herausgehängt werden. Sie sind Gebete für Mitgefühl, für Liebe, für ein Ende der Herzensqualen. Sie werden hinausgetragen vom einsamen Luftstrom singender Stimmen, um sich um jeden zu wickeln, der sie hört. Sie erschaffen ihre eigene bessere Welt. „Gott, lehre uns zu beten“, singen die Wisdom Sister in „Prayer“. Aber das Lied lehrt den Sänger und den Hörer alles was wir wirklich wissen müssen.