50-Jahre Ton Steine Scherben! Klar: ein Jubiläumskonzert muss sein, aber dann gab es auch eine Fotoausstellung auf dem Mariannenplatz und im Bethanien die die Geschichte von Ton Steine Scherben und die Zeit der Ende 60er, Anfang 70er Jahre nachzeichnet. Von dieser Ausstellung im Sommer 2021 ist nun der Katalog erstellt worden. Er zeigt Gesichter und Geschichten der Rockband Ton Steine Scherben und ihres charismatischen Sängers Rio Reiser.
Die Geschichte von Ton Steine Scherben war exemplarisch für ihre Zeit, hier erwuchs eine musikalische Kraft, die für die Rockmusik in Deutschland Maßstäbe setzte und die sich in die Herzen und Seelen mehrerer Generationen bis heute eingeschrieben hat. Knapp 300 Seiten mit 280 Schwarz-Weiß-Fotografien und zahlreichen Interviewausschnitten mit der Band und Zeitgenossen machen deutlich, Ton Steine Scherben waren nicht eine Musikgruppe die im Übungsraum probt und von Konzerten träumt.
Vielmehr waren sie wie viele andere Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, auf der Suche nach Veränderung und Selbstbestimmung. Vor diesem Hintergrund waren sie authentischer Ausdruck einer rebellischen Jugend: ihr Aufbegehren nach Freiheit und Gerechtigkeit, einem anderen, besseren Leben gegen eine demokratisch mangelhafte, autoritär geprägte piefige Nachkriegsgesellschaft.
Zu sehen ist das, was der Band bis heute Glaubwürdigkeit und Zuneigung verschafft: Sie sangen nicht nur »Denn die Freiheit ist unser Ziel«, sondern sie versuchten, dieses Ziel auch in ihrem Lebens- und Arbeitsalltag umzusetzen: gemeinsam und solidarisch mit allen, die nach Autonomie und Gerechtigkeit strebten und ihre Unterstützung brauchen konnten: von den Lehrlingen und obdachlosen Jugendlichen in Kreuzberg über politische Gefangene, Hausbesetzer, Anti-Atomkraft Gegner oder den schwulen Theatergruppen Brühwarm und Transplantis.
Dokumentarische, ikonische Pressefotos von mehr als 50 lokalen und internationalen Fotografen bringen im ersten Teil des Katalogs die Nachkriegszeit in Erinnerung: Von der gesellschaftlichen Mauer des Schweigens zu den NS-Verbrechen, über die physische Mauer im geteilten Berlin, bis zur kulturellen Revolution des Rock ’n‘ Roll, der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, APO und Proteste gegen den Vietnamkrieg, der Erschießung Benno Ohnesorgs o. a. – historische Kräfte und Momente, die als Vorgeschichte und »kulturelle DNA« auf die Revolte der 60er und 70er Jahre und auf die Entwicklung von Ton Steine Scherben einwirkten.
Im zweiten Teil des Katalogs sind Bilder von Fotografen zu sehen, die die Band punktuell oder länger mit der Kamera begleiteten, Porträts und Momentaufnahmen der Veränderungs- und Selbsterfindungsversuche: Die Gründung der Band aus den Wurzeln des Theaters, die Rauch-Haus-Besetzung und andere Aktionen mit Jugendlichen, Zusammenleben und -arbeiten in der Kommune am Tempelhofer Ufer, Ausstieg und Leben auf dem Land in Fresenhagen, Tourneen und Plattenproduktionen mit eigenem Label und Vertrieb und immer wieder Theaterprojekte.
Kulturgeschichtlich betrachtet war die Geschichte der Band exemplarisch für ihre Zeit, aber sie wuchs auch darüber hinaus. Ton Steine Scherben waren Bestandteil und Dynamo, vor allem aber authentischer Ausdruck einer Jugend-Revolte, die unsere Gesellschaft verändert und neue demokratische Prozesse und Formen ermöglicht hat.
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