dem Rhythmus seiner Schwester

Da es nun mal nichts gibt, was es nicht gibt, gibt es nicht nur Musik für Millionen und Musik für Kinder und Musik für verträumte Stunden und Musik, um militärische Gegner in den Wahnsinn zu treiben, und Musik zum Einschlafen und eine Opernmusik, die von Fischen in einem Aquarium durch ihre Bewegungen den sie beobachtenden und sofort improvisierenden Musiker*innen eingegeben wird, sondern jetzt auch noch Musik für Flugräder. Was ebenfalls einige Fragen aufwirft.

Sollen die Flugräder diese Musik hören? Aber wann? Wenn sie fliegen oder wenn sie in abgesperrten Garagen stehen und vom Fliegen träumen oder wenn sie auf den Schrottplatz geworfen wurden und auf ein Comeback hoffen? Oder ist die Musik für die Leute, die grade mit einem Flugrad unterwegs sind?

Gute Fragen – mich hat jedoch zuerst die Frage beschäftigt, wie es zu dieser Acher-Pongratz-Kapelle und diesem Album kam.

Die Münchner Independent+Avantgarde-Szene ist seit Jahren bekannt dafür, dass Labels auffällig oft zusammenarbeiten und viele Musiker*innen sich nicht nur in einer/ihrer Band verschanzen, sondern gerne in anderen Gruppen mitmischen oder auch schnell mal eine Formation bilden, aus der ein Jahr später vielleicht zwei neue Formationen entstanden sind – aber diese Verstärkungsgruppe ist schon besonders schön. Wenn ich etwas lockerer drauf wäre, könnte ich in Versuchung kommen, den durch inflationären und lächerlichen Gebrauch kaputten Begriff Allstar-Band aus der Werkzeugkiste zu kramen und dann noch vor der Veröffentlichung loslabern, der Gipfel des Unsinns, es wäre „schon jetzt eine Kultplatte“.

Eine Zusammenarbeit von Micha Acher und Maxi Pongratz war nun keine Überraschung. Acher hat 2019 nicht nur Pongratz‘ Soloalbum für Trikont produziert, sondern seit 2012 alle drei Alben von Pongratz‘ Band Kofelgschroa; und mehr noch, er hatte es damals geschafft, die Band, die die Aufnahmesituation in einem Studio nicht ertragen konnte und schon den Plan hatte, nur als Live-Band zu existieren, in eine für sie passende Studiosituation reinzuholen.

Acher erinnert sich, was ihn damals für sie eingenommen hatte: „Die haben da in ihrem Oberammergau ihre ganz eigene Art von Popmusik kreiert, bevor dieser ganze Hype kam mit ‚Heimat‘ und so“.

Als sich Kofelgschroa zu einer, bis heute nicht beendeten, Pause entschlossen, machte Pongratz solo weiter. 2019 wurde er zum großen „Alien Disko“-Festival eingeladen, das die Brüder Micha und Markus Acher jährlich veranstalten (die zu den besonders starken Kollaborateuren der Münchner Szene gehören; mit ihrer Band The Notwist als Mutterschiff und ihrem Alien Transistor-Label haben sie fast nicht mehr zu zählende Projekte angestoßen, Bands gegründet, unterstützt, irgendwo mitgemischt) – jetzt mit der Idee, den Sänger und Akkordeonisten zu verstärken, und so kam es zum Konzert von „Maxi Pongratz mit Verstärkung“, mit Micha Acher als musikalischem Leiter und fast genau dieser Besetzung, die dieses Instrumentalalbum eingespielt hat.

Die Musiker*innen der Verstärkung haben eine schwer zu überbietende Ahnung von verschiedenen Traditionen bis zu Pop- und experimenteller Musik, und die komplette Aufzählung der Kapellen, die sie ansonsten verstärken oder verstärkt haben, würde, wie man in Bayern sagt, auf keine Kuhhaut gehen. Ich nenne nur mal Lovebrain & Diskotäschchen, Aloa Input, Hochzeitskapelle, G.Rag Y Los Hermanos Patchekos und G.Rag & Die Landlergschwister, Zwirbeldirn, Micha Achers Alien Ensemble sowie Einsätze bei The Notwist, Pongratz‘ Soloalbum (Trikont US-498), Leonie Singt, Fehler Kuti, MS John Soda, „Kathmandu Valley“-Projekt (Trikont US-511). Mit einer kompletten Plattensammlung von allen Beteiligten wäre man eine Weile beschäftigt, und das wäre mein bodenständiger Traum vom Fliegen.

Musik für Flugräder (oder wen auch immer) ist jedenfalls nicht entstanden, weil Micha Acher und Maxi Pongratz ein paar verstärkende Pillen eingenommen hätten, um in andere Welten abfliegen und dort nach Musik suchen zu können. Im Raum hinter dem Album finden sich Realitäten, Assoziationen und eine Person, die im letzten Jahrhundert sehr viele Flugräder, aber auch einige Instrumente konstruiert, beschrieben, skizziert, gemalt und gebaut hat.

Micha Acher war auf das Werk von diesem Gustav Mesmer gestoßen, als er vor einigen Jahren mit The Notwist auf Tournee war und in Luzern eine Ausstellung mit Art Brut-Kunstwerken besuchte, mit Outsider Art, Raw Art, roher Kunst, mit von gesellschaftlichen Außenseitern und anderen irgendwie oder überhaupt nicht oder nur scheinbar Behinderten autodidaktisch produzierter Kunst. Und seitdem habe ihn das „nicht mehr losgelassen“, erzählt er, „diese tollen Bilder und diese krassen, tollen, nicht funktionierenden, genial-sympathischen Fahrräder.“ Die zu Flugrädern um- und ausgebaut waren und denen ihre Versetzung vom aeronautischen in den Kunstbereich passte.

Ist das Kunst oder kann das in die Luft fliegen? Diese beliebte Frage ist damit nicht beantwortet.

Gustav Mesmer, geboren 1903 im oberschwäbischen Dorf Altshausen und 1994 verstorben in Buttenhausen, war noch zu Lebzeiten besser bekannt als „Ikarus vom Lautertal“. Mehr als sechzig Jahre hat er nicht nur vom Fliegen geträumt, sondern sich ernsthaft damit beschäftigt. Der Grund für diese Intensität wird auch damit zu tun haben, dass Mesmer mehr als vierzig Jahre seines Lebens in geschlossenen Anstalten eingesperrt oder in miesen Verhältnissen eingezwängt war. Seine Lebensgeschichte klingt wie ein düsteres Märchen, das zur Geisterstunde die Albträume aufleuchten lässt.

Nach nur vier Schuljahren musste er, eines von zehn Kindern, als sogenannter Verdingbub auf Gutshöfen arbeiten, was in der Regel wie Sklavenarbeit war, um in den Wirren des Ersten Weltkriegs durchzukommen. Von Ordensschwestern wurde er „angestiftet“, wie er selbst es nannte, 1922 in ein Kloster einzutreten, und „da kann nur ein Lebensunerfahrener hereinfallen wie ich“, schrieb er in seinen Memoiren vierzig Jahre später, als er immer noch in so einer verfluchten Anstalt saß.

Titel „BIOGRAFIE — U N B E K A N N T —“, Untertitel “Von einer Person, deren Lebensweg durch Orden wie Psych. Krankenhaus führte“. Dann tippte er den ersten Satz in die Schreibmaschine: „Sein Name, die Erkennungs-fanthome, sollen erst mit der Endlektüre erbracht sein!“

Mesmer verfasste vierzehn eng beschriebene Seiten in seiner ganz eigenen poetisch-verschrobenen Sprache, von deren amtlichen Regeln er nicht viel mitbekommen hatte, was seinen Ausdruckswillen jedoch nicht behinderte. Sein Underdog-Hundeleben ist in dieser Biografie eher nur zu erahnen – deutlich ist dagegen die Vorsicht des Inhaftierten, der immer noch mit dem Schlimmsten rechnen muss, wenn er was Falsches sagt.

Sechs Jahre also saß Mesmer unglücklich im Kloster Beuron, ehe er den Ausstieg bzw. Ausbruch schaffte. Das hatte bald darauf im März 1929 katastrophale Folgen: „Wohl noch beeinflusst durch seine Klosterzeit störte er die Konfirmationsfeier in der Altshausener Dorfkirche. Dort soll er mehrmals laut erklärt haben, dass hier nicht das Blut Christi ausgeteilt werde und sowieso alles Schwindel sei“ (Reile), und wenige Tage später wird er für diese nicht so seltene Ansicht in der sogenannten Heil- und Pflegeanstalt Bad Schussenried eingesperrt. Ein Arzt hatte die Diagnose „Schizophrenie, langsam fortschreitend, bei einem von Haus aus vielleicht schon schwachsinnigen Menschen“ erstellt, was später mit Begriffen wie „Infantiler Charakter“ und „Erfinderwahn“ ergänzt wurde. Dass diese Diagnosen jahrzehntelang weder überprüft noch revidiert wurden, darf man als Verbrechen bezeichnen – die von genau jenen Heilanstaltsdoktoren begangen wurden, die schon bald „Heil!“ brüllten und mitverantwortlich waren, dass tausende Menschen sterilisiert und ermordet wurden, die die Nazis als „unwertes Leben“ betrachteten. In diesem Fall hatte Gustav Mesmer endlich einmal etwas Glück: Er kam auf keine der Todeslisten, weil er ein guter Arbeiter war und sowieso eingesperrt bleiben würde.

Hilfe bekommt er in all den Knastjahren von nichts und niemandem. Er haut 16 mal ab, kommt von selbst zurück oder „begleitet“ von Polizei, wird 1949 in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Weissenau verlegt und kommt erst 1964 – im Zuge einer verspäteten Gerechtigkeit wäre die Forderung angebracht, dass die bis heute existierenden Nachfolgeanstalten verkauft und die Erlöse der Gustav-Mesmer-Stiftung übergeben werden – aufgrund der Intervention einer Verwandten raus in ein Altenheim. Wo er endlich, fast im Rentenalter, richtig loslegen und „an seinen Fluggeräten ungehindert basteln“ kann, und „niemand redet ihm drein, bevormundet oder verspottet ihn“.

Seine Leidenschaft für Fluggeräte war seit 1932 dokumentiert, sie hat ihn durchhalten lassen, und jetzt wird er „zum ersten Mal in seinem Leben vorbehaltlos akzeptiert“ und „sein Erfindungsgeist kennt keine Grenzen“ mehr: „Er malt mehrere Bildserien von überwiegend naiv geprägter, faszinierender Schönheit“ (Reile), auch eine Bilderrolle von vierzehn Meter Länge (die im großartigen und umfangreichen neuen Katalog in einem Leporello auf fünf Meter nachgebildet ist), er baut Instrumente, eine Sprechmaschine, Werkzeuge und Tabakpfeifen, verfasst Anleitungen, verdient seinen Lebensunterhalt als Korbmacher und -flicker mit eigener Werkstatt und kann ins Freie, um seine Flugräder auszuprobieren.

Als erfahrener Ex-Katholik kann ich hier versichern, dass es an ein Wunder grenzt, dass die Kreativität dieses Mannes in diesen hundsmiserablen Jahrzehnten, die hier nur grob angerissen werden können, nicht zerstört wurde.

Durch seine Erfindungskunst hat er dann sogar ein zweites Mal richtig Glück im Leben, als seine Werke als Kunstwerke neu entdeckt werden. Angestoßen von Stefan Hartmaier, der den Flugradler schon als kleiner Junge erlebte, ihn während seines Kunststudiums immer wieder fotografierte und noch zusammen mit ihm die Gustav-Mesmer-Stiftung gründete, deren Vorsitzender er heute ist, kam es zu Ausstellungen und Beteiligungen u.a. in Lausanne, Wien, Paris, im Zeppelin Museum Friedrichshafen, in New Yorks American Folk Art Museum. Den Höhepunkt seiner Laufbahn konnte Mesmer noch erleben, als ein Flugrad im deutschen Pavillon bei der Weltausstellung 1992 in Sevilla ausgestellt wurde. Der Weg dorthin war ihm jedoch zu weit. Näher gelegen war sein spezieller Erfolg im Jahr vor seinem Tod: Eine große Ausstellung in Altshausen.

Die Frage, ob seine abenteuerlichen Flugräder denn wirklich fliegen könnten, war damit unwichtig geworden – die Dinger sahen in echt oder auf den Skizzen oder den sorgfältig ausgeführten Aquarellen einfach faszinierend aus. Manche auch wie Inspirationen zu Filmen wie Blade Runner oder mehr noch Emir Kusturicas Arizona Dream, in dem die Amateurflugzeugkonstrukteure Faye Dunaway und Johnny Depp ebenfalls abhauen wollen, nicht weit kommen, dabei jedoch Momente großen Glücks erleben … Einschätzungen, Reaktionen, Perspektiven, über die der Erfinder nicht nachdachte, sich über seine späte Anerkennung jedoch sehr freute. Er wusste, dass diesen Erfolg keine Menschenseele auf der Rechnung gehabt hatte.

Der Mann aus Altshausen wollte keine Kunst machen, aber er konnte nichts dagegen machen, dass er auch Kunstwerke machte.

Seine Instrumente wie „Trompetengitarre“, „Blechzither“ oder „Doppelhalsgeige“ scheinen eher ins Museum von Karl Valentin zu gehören, der bekanntlich ebenfalls unter „Erfinderwahn“ litt, als in die Hände von Musiker*innen. Mesmer war kein Musiker und wusste selbst, dass seine Instrumente mit den Normen des Instrumentenbaus nichts zu tun hatten und man sie weder so stimmen, noch so spielen kann, wie man es in einer Musikschule gelernt hat. Doch wie heißt es in solchen Fällen so schön: Wer kann, der kann (eben doch) – und im wunderbaren Dokumentarfilmvon Hartmut Schoen spielt Mesmer mit fünf Kollegen aus dem Heim der Diakonie in Buttenhausen auf seinen Instrumenten, im Nebel auf einemHügel sehen sie aus wie eine ältere Version von The Band 1969, und sie bringen siezum Klingen, und es klingt wie nichts, was man auf anderen Instrumenten herstellenkönnte, denn sie wurden von einem Eigenartigen selbst gebaut und klingen eigen- undeinzigartig. File under incredibly strange music, und ich lehne mich keineswegs weitaus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass sich kein geringerer als der legendäreRadio-DJ John Peel sicher brennend dafür interessiert hätte, denn die von ihm un seiner Frau Sheila für Trikont versammelte Compilation The Pig‘s Big 78s (US-350)berichtet aus genau jenen Gebieten, wo es keine unmögliche Musik gibt. Für den Musikfür Flugräder-Soundtrack wurden diese Instrumente nicht verwendet, aber Micha Acher konnte sie inzwischen (in der Notwist-Besetzung mit seinem Bruder Markus und Cico Beck für ein im Herbst 2021 geplantes Mesmer-Hörspiel von Andreas Ammer) benutzen und bestätigen, dass es ein Abenteuer ist.

Niemand kann mit Mesmer-Instrumenten einen Mozart spielen, aber in einem Sun Ra Arkestra oder in einer improvisierenden Truppe wie dem Revolutionary Ensemble würde man sie mitmachen lassen können.

Aus ähnlichem Blickwinkel hat es der Journalist, Komponist und „faculty member at London’s Institute for Contemporary Music Performance“ Robert Barry in seinem Buch Die Musik der Zukunft sozusagen bis zum Äußersten formuliert. Es geht um die Frage, wie Neues entsteht und Grenzen verschoben werden: „Wir brauchen Leute – egal ob Kritiker, Komponisten oder andere Künstler -, um (…) Fehler zu machen und Dinge falsch zu verstehen. Die Leute sollten ihre Werke gegenseitig missbrauchen, sie mit Dingen in Verbindung bringen, in deren Nähe sie niemals kommen sollten, genauso wie wir von Künstlern erwarten, dass sie die Technologie auf eine Weise nutzen, für die sie nicht vorgesehen war“, denn „genau dort kommen neue Ideen und neue Wege her, aus Fehlern und Missbrauch und allgemeinen Missverständnissen.“ Was zu Mesmers Konstrukten passt und wie sie dann benutzt und in diesem positiven Sinn auch missund damit neu verstanden wurden.

Mit etwas Übereifer könnte man ihn sogar gut zu einem bedeutenden Pionier der DIY-Kultur aufbauen, dessen Do-It-Yourself-Geist vor nichts Halt machte, letztlich große Wirkung erzielte (vergleichbar mit den berühmten drei Akkorden auf Schrottgitarren) und sogar zukunftsweisend war, weil seine Geräte ausschließlich mit recyceltem Material (Planen, Drähten, gebrauchtem Holz etc.) hergestellt und ohne Verschwendung von Ressourcen bewegt wurden.

Aber Achtung!

Selbst wenn sie wie Mesmer nur „von Dorf zu Dorf“ fliegen wollen, haben es DIY-Aeronauten viel schwerer als DIY-Artisten: Es waren nämlich topausgerüstete technische Topcracks, die mit ganz ähnlichen Überlegungen wie der Lautertaler Totalautodidakt mit muskelbetriebenen Flugrädern Erfolg hatten, wie etwa Weltrekordflieger Bryan Allen 1979 (der später als Software Engineer in eine Mars-Forschungsabteilung der NASA
eingeliefert wurde).

Dagegen war es kein Übereifer, sondern eine sekundenschnelle Assoziation, einen der Großen der improvisierten experimentellen Musik, den Jazzpianisten und Outer-Space-Philosophen Sun Ra in diese Geschichte reinzuholen; obwohl ich da den Helm noch nicht kannte, den sich Gustav Mesmer gebaut hatte (mit dem er genauso gut mit Lee Scratch Perry hätte performen können). Sun Ra (1914-1993) behauptete, vom Saturn zu kommen, war bekleidet mit Kostümen und Kopfbedeckungen, die gewisse Leute verwirrten, und hatte mit dem Slogan „space is the place“ den Plan, sein unter Rassismus und anderen Plagen leidendes Volk auf einen besseren Planeten rauszufliegen. Auch bei Sun Ra nicht nur der Traum vom Fliegen, sondern Fliegen als Flucht, und wenn es noch nicht funktioniert, gibt das Denken daran und der Glaube an die Musik als Triebwerk mehr Halt.

„Ich spiele die Musik des Weltraums“, sagte Sun Ra, und er habe „die Musik der Planeten erforscht wie Kopernikus deren Umlaufbahn.“

Natürlich hielten ihn die meisten der Leute, die nicht wie verrückt hinter seinen Aufnahmen her waren, für einen Oberspinner. Als wäre es so wahnsinnig kompliziert, sich nicht auf das Raumschiff, sondern auf seine Idee zu konzentrieren. Der deutsche Dichter Rolf-Dieter Brinkmann hat in einem ähnlichen Zusammenhang die wunderbar passende Bezeichnung „cosmonauts of inner space“ zugespielt.

In Sun Ras Arkestra werden Instrumente wie „Sonnenharfe“ oder „Zebra-Trommeln“ eingesetzt und ein „Haufen Perkussion-Instrumente, für die nicht einmal er selber Namen besitzt.“ Vor allem aber gebe es „in seiner Weisheit keinen Bruch zwischen Körper und Geist, zwischen Materiellem und Immateriellem, zwischen Kunst und Leben, zwischen Natur und Idee, zwischen Irdischem und Überirdischem und meinethalben auch Außerirdischem“, schrieb der Jazzologe Joachim-Ernst Berendt, um dann diesen Bogen zu schlagen: „Genau dieser nicht vorhandene Bruch ist es, in dem [für weiße Menschen] Naivität nistet“, aber diese Naivität sei eben „kein Terminus für schwarze Kunst.“ Was die Nazi-Ärzte bestritten hätten, die Mesmer als „infantilen Charakter“ abhakten und wegsperrten.

Wenn ich die Sun-Ra-Story hier mit der Gustav-Mesmer-Story verschraube, heißt das nicht, dass ich behaupte, sie wären vergleichbar – sie treffen sich hier eben, wie an einer Straßenkreuzung, nicht ganz zufällig.

Wie Micha Acher eines Tages in einer Art-Brut-Ausstellung von einem Flugrad getroffen und auf eine Verbindung gestoßen wurde. Es passierte beim zweiten Kofelgschroa-Album Zaun (Trikont US-460): „Wo der Maxi auf dem Cover ist mit dem Radl, und irgendwann später habe ich mir gedacht, krass, das passt ja so gut zusammen: der Typ hat die Räder für den Maxi gebaut, wenn das funktionieren würde, das wäre dem Maxi sein Fortbewegungsmittel.“ So entstand das Rückgrat für das schon in Arbeit befindliche Album der beiden Freunde und es wurde ihr „persönlicher Soundtrack zu den filmisch festgehaltenen Flugversuchen Gustav Mesmers, und so wie er bei seinen Versuchen zu fliegen niemals abgehoben ist und dennoch das Glück des Fliegens ausstrahlte, haben wir bei den Aufnahmen den Moment festgehalten, anstatt die Perfektion zu suchen.“

Acher fungierte als musikalischer Leiter, hat arrangiert und, sechs Tracks zusammen mit Pongratz, komponiert: „Alles, was wir spielen, steht auf Noten, deshalb hat es auch was Kammermusikalisches. Und da wollte ich dann eben nicht, dass es sowas Ambitioniertes hat und glatt und sauber und gut gespielt klingt, sondern wir haben es an einem Tag aufgenommen und am zweiten nochmal durchgespielt, diese zweite Aufnahme ist es dann geworden, es hatte genau den Charme, den wir haben wollten.“

Die Beschäftigung mit dieser Musik für Flugräder und ihrem Antrieb haben mich auch zurückgeworfen. Oder besser gesagt, mich an grundlegende Bedingungen meiner und unserer Arbeit erinnert und mehr Fragen aufgewühlt. Was taugt eine Idee? Und ist sie vielleicht wichtiger als die Ausführung, und passt eine Ausführung am Ende noch zur Idee? Wann ist eine Idee so verrückt, dass sie schon wieder genial ist, und wann ist sie einfach nur bescheuert? Und was soll man machen, wenn es einem erst nach einem Jahr Arbeit dämmert, dass die Idee einfach nur bescheuert ist? Denken L‘Art Brut-Künstler*innen über ihre Kunst nach oder dürfen sie nur in diese Schublade, wenn sie ausschließlich ausdembauchraus was schaffen? Warum eigentlich bin ich seit vielen Jahren davon überzeugt, dass Ideen – ich habe so viele phantastische Ideeään! – zum Beispiel für das Schreiben von Romanen nicht so wichtig sind? Bin ich auf dem falschen Dampfer oder haben schon wieder alle anderen einen Sprung in der Schüssel? Glaube ich meinem Gefühl oder meiner Therapeutin? Hat sie Corona oder hat sie‘s erfunden? Welche romantischen Vorstellungen von Kunst sind nicht totzukriegen, obwohl sie längst in die Tonne getreten wurden? Aber werden welche weiterhin gebraucht, wenn man nicht zum Kunstproduktionsverwalter verkommen will, der nur noch in Soll-und-Haben-Kategorien rumhängt? Sollten wir endlich mal denen auf‘s Maul hauen, die behaupten, wir können es doch eh nicht richtig?

Die Frage, wie man auf die Idee kommt, man könnte mit etwa 20000 Buchstaben, die schon aus geringer Entfernung aussehen wie kleingehacktes Grünzeug in einem von Dampf vernebelten Teller Suppe, einem anderen Vogel eine Instrumentalmusik mit dem halluzinierten Titel Musik für Flugräder näherbringen, ist auch nicht geklärt.

Wird das Album auch ein paar anderen Vögeln so viel Freude machen wie mir? Ihnen vielleicht sogar als Flugkörper dienen? Nicht ausgeschlossen. Ich weiß es nicht. Besser gesagt, ich weiß es doch auch nicht. Aber kann gut sein. Kann sogar sehr gut sein. Ganz sicher. Glaube ich.

nachgedacht-geschrieben Februar-April 2021

 

 

Quellen und erhellendes Material:
Barry, Robert: Die Musik der Zukunft. Edition Tiamat, Berlin 2018
Berendt, Joachim-Ernst: Ein Fenster aus Jazz. S.Fischer, Frankfurt 1980
Brinkmann, Rolf-Dieter: Der Film in Worten. In: Acid – Neue Amerikanische
Szene. März, Darmstadt 1969
Buddensieg, Tilmann/Rogge, Henning (Hrsg.): Die Nützlichen Künste –
Gestaltende Technik und Bildende Kunst seit der Industriellen Revolution.
Katalog. Quadriga, Berlin 1981
Gustav Mesmer Stiftung: www.gustavmesmer.de
Gustav Mesmer, Ikarus vom Lautertal genannt. Katalog. Gustav Mesmer
Stiftung, Kirchentellinsfurt 1989
Hartmaier, Stefan (Hrsg.): Gustav Mesmer, Flugradbauer Ikarus vom
Lautertal genannt. Katalog, 580 Seiten. Edition Patrick Frey, Zürich 2018
Reile, Holger: Er hatte ein fliegend‘ Herz. In: Gustav Mesmer, Ikarus vom
Lautertal genannt. Katalog. Gustav Mesmer Stiftung, 1999
ders.: Der Ikarus vom Lautertal. In: neues deutschland, 21.7.2011